Wahrnehmungsverzerrungen im Konflikt

Kennen Sie das? Wenn Sie überlegen, ein Auto einer bestimmten Marke zu kaufen, sehen Sie auf einmal überall genau ein solches Auto. Und wenn Sie verliebt sind, sehen auch die Menschen um Sie herum glücklicher aus: Unsere Wahrnehmung ist abhängig davon, worauf wir gerade konzentriert sind („Priming“).

Man stelle sich vor, was das für Konflikte bedeutet! Habe ich einmal den Verdacht, mein Kollege hintergeht mich, dann sehe ich dafür auf einmal sehr viele Anzeichen. Bin ich im Konflikt mit meiner Chefin, prüfe ich (vernünftigerweise) alles, was sie sagt oder tut, ob darin eine Aggression gegen mich versteckt sein könnte, und nehme dann (nicht mehr so vernünftigerweise) auch tatsächlich mehr Aggressionen wahr. Also wappne ich mich und halte nötigenfalls dagegen, was wiederum meine Chefin – da auch sie vermutlich auf Habacht ist – sehr aufmerksam wahrnehmen wird. Ein versöhnliches Zeichen von mir oder von ihr kann da schnell verloren gehen.

Solche Wahrnehmungsverzerrungen können sehr weit gehen: Katzen, die in horizontal gestreiften Räumen aufwachsen, können anschließend keine Bäume hinaufklettern, da sie vertikale Strukturen schlicht nicht wahrnehmen können. Viel geschickter waren da jene Katzen, die in einer vertikal gestreiften Umgebung aufwuchsen – nur konnten diese keine Treppen steigen. Dafür müssten sie nämlich horizontale Streifen wahrnehmen können (Blakemore et al. 1970). So stark ist unsere Wahrnehmung von unserer Erfahrung, geprägt.

Wie wir solchen Wahrnehmungsverzerrungen entgehen können, beschreibe ich in dieser Ausgabe von Wissenswertes und wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Claudia Funke

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Mein, dein, unser Denken? Wenn mentale Shortcuts zum Problem werden

Trauen Sie Ihrer Wahrnehmung? Sicherlich. Unsere Wahrnehmung ist unser Zugang zur Welt. Wir müssen ihr trauen, denn im alltäglichen Fluss der Ereignisse ist sie ein verlässlicher Kompass: Die Ampel ist grün, ich kann fahren. Mein Chef sagt „Okay“, ich kann das Projekt wie geplant durchziehen. Dieses sogenannte „schnelle Denken“ (Kahnemann, 2011) geschieht mühelos und bringt uns meist gut durch den Alltag. Es ist „schnell“, weil es mentale Shortcuts, kognitive Abkürzungen nutzt: Es wird nicht mehr jede Wahrnehmung und jeder Gedankenschritt kritisch geprüft, wie beim „langsamen Denken“. Und das ist die Schattenseite: Die Abkürzungen sind uns nicht bewusst, und so hält jeder das, was er denkt, für die einzig richtige Sicht der Dinge.

Ich hab es doch gehört!“, hören wir oft in einer Konfliktklärung, oder „Ich weiß doch, was ich gesagt habe!“, während es die Andere abstreitet. Wie kann das sein? Unsere Wahrnehmung bildet die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab. Dafür ist diese viel zu komplex. Versuchen Sie einmal, alles – wirklich alles – was sie gerade sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken, wahrzunehmen. Eine Unmenge an Daten und Eindrücken! Darum sortiert unser Gehirn – von uns unbemerkt – und fokussiert auf das, was es als relevant bewertet. Erst für etwas Überraschendes oder ein neuartiges Problem wird das „langsame Denken“ wieder mobilisiert: „Moment, hier muss ich noch einmal genau hingucken.“ Im Konflikt aber ist uns dieses „langsame Denken“ oft nicht mehr möglich, und dann entstehen hartnäckige Verzerrungen in der Wahrnehmung, die Konflikte begünstigen.

Eine klassische Wahrnehmungsverzerrung entsteht beispielsweise, indem wir Erfahrungen mit einem Menschen verallgemeinern: „Herr M. macht dauernd Alleingänge!“, wenn die eigentliche Erfahrung nur ist: Herr M. hat die letzten zwei Mails ohne Rücksprache mit mir verschickt. Leicht wird daraus ein: „Herr M. ist unkollegial und rücksichtslos.“ Für diese Meinung findet man dann schnell weitere Belege. Die Neurowissenschaft nennt das „Priming“: Das, worauf unsere Wahrnehmung einmal fokussiert ist, lenkt unser weiteres Wahrnehmen und Denken.

In der Mediation verlangsamen wir bewusst und betrachten, wie es zu einer bestimmten Überzeugung gekommen ist. Es wird immer deutlich: die eigene Wahrnehmung und Interpretation ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, auf die Wirklichkeit zu schauen. So werden Vorstellungen vom Anderen und Interpretationen seines Verhaltens wieder beweglich: Ja, ich habe das – aus guten Gründen – so wahrgenommen, aber man kann das auch anders sehen. Stellen wir dann „meine“ und „deine“ Wahrnehmung nebeneinander, entsteht eine gemeinsame Wahrnehmung, in der eine konstruktive Kommunikation wieder möglich wird und alle gut miteinander leben können. Nach einer erfolgreichen Mediation kann dann sogar das „schnelle Denken“, das jetzt „unser Denken“ ist, wieder fließen.

Der Teufelskreis von Wahrnehmungsverzerrung und Konflikt

Der Traurige sieht Schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte; dem Heiteren leuchtet die Welt, und er ist nicht imstande, etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte; dem Liebenden begegnen die bösesten Wesen mit Vertrauen; und der Argwöhnische findet nicht nur sein Misstrauen allerorten bestätigt, sondern die Bestätigungen suchen ihn geradezu heim. Auf diese Art schafft sich jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke und Dauer erlangt, eine ausgewählte und anzügliche, seine eigene Welt [...].“


Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Hinschauen lohnt sich: Vorurteile als Erfahrungs-Killer

„Dicke Menschen sind faul“, „Schwaben sind geizig“, „Männer sind weniger belastbar“ – jeder Mensch hat Vorurteile, vorgefasste Meinungen über Menschengruppen, die aber nicht für alle diese Menschen gelten, manchmal einfach gar nicht. Trotzdem halten sie sich hartnäckig. Warum? Sie haben einen gewichtigen Vorteil: Meine Welt darf bleiben, wie sie ist, ich muss mich in meiner Wahrnehmung nicht korrigieren lassen. Und sie haben einen gewichtigen Nachteil: Ich kann keine neuen Erfahrungen machen. Lasse ich mich hingegen darauf ein, genauer hinzuschauen, erlebe ich vielleicht eine positive Überraschung, und der unscheinbare, füllige Kollege arbeitet nicht nur effizient, sondern ist auch noch witzig und unterhaltsam. Finden Sie es heraus!

 

Eine Beobachtung erkennt man daran, dass man sie auf einem Film festhalten könnte, z.B. „Während wir miteinander geredet haben, hat sie zweimal Papiere auf ihrem Tisch bewegt und meistens neben mich oder auf den Tisch vor sich geschaut.“ Alles, was darüber hinausgeht, ist eine Bewertung, z.B.: „Sie war während unseres Gespräches die ganze Zeit abgelenkt. Es interessiert sie also überhaupt nicht, was ich ihr zu sagen habe.

Im Alltag vermischen wir die unmittelbare Wahrnehmung immer mit Bewertungen. Oft ist das unproblematisch, aber wenn es Beziehungen belastet, trennt man besser bewusst zwischen Beobachtung und Bewertung. Dann bleibt Spielraum für Fragezeichen: Was genau mag es bedeuten, dass sich jemand gerade so verhält?

Wenn ich mir bewusst mache, dass meine Wahrnehmung mit Interpretationen und Bewertungen vermischt ist, kann ich der Anderen den „benefit of the doubt“ zugestehen: Meine Interpretation kann falsch sein; vielleicht meinte sie es gar nicht so? Möglich wird dann z.B. eine offene Frage: „Warum haben Sie sich so verhalten?“ Die Antwort mag nicht immer angenehm sein, aber sie schafft zumindest Klarheit. Damit gibt es eine Gesprächsgrundlage. Und solange ein Austausch besteht, haben Wahrnehmungsverzerrungen wenig Chance, die Beziehung dauerhaft zu stören.

Diese Trennung sind die ersten zwei Schritte der Gewaltfreien Kommunikation. Wollen Sie die Schritte lernen und üben? Wir bieten dazu Weiterbildungen an; kontaktieren Sie mich gerne. 

„Die höchste Form der menschlichen Intelligenz ist die Fähigkeit, zu beobachten ohne zu bewerten.“
Krishnamurti

Autorin dieser Texte ist Claudia Funke, ©2021.

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